Eine persönliche Herausforderung für mich war…

der Umgang mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen.

Im nachfolgenden Text will ich – etwas unkonventionell – beschreiben, wie sich mein Umgang mit Behinderungen im Laufe des Praktikums verändert hat.

Heute ist es soweit: mein erster Tag im pflegerischen Praktikum!
Erwartungsvoll und auch ein wenig angespannt betrete ich den Sternstunden-Kindergarten. Die freundliche und warmherzige Atmosphäre, die mir bereits bei einem kurzen Vorstellungsgespräch in den Osterferien auffiel, erleichtert mir auch heute den Start. Die nächsten Wochen darf ich nun also in den lebendigen Alltag der Sonnengruppe hineinschnuppern. Von den MitarbeiterInnen fühle ich mich herzlich aufgenommen – ebenso von den Kindern, denen ich mich einzeln vorstelle. Wo sind denn nun die Förderkinder? Auf den ersten Blick erkenne ich vor allem zwei der fünf von ihnen: ein Mädchen mit Down-Syndrom und eines mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen. Sein Rollstuhl sticht ins Auge – und mir direkt ins Herz. Auf den ersten Blick wirkt der fahrbare Untersatz wie ein Gefängnis auf mich. Festgegurtet, festgeschnallt, eingesperrt. Sichtbar gemachte Unbeweglichkeit des Körpers. So etwas wie Betroffenheit macht sich in meiner Magengegend breit, denn: so genau wie heute habe ich zuvor noch nie hingesehen. Schließlich schauen viele Erwachsene nur zu gern weg, weil man sich nicht des Gaffens schuldig machen möchte.
Wie gut, dass ich jetzt hingucken muss, ob ich will oder nicht – und ich will.
Was sehe ich da? Sie lacht mich an, strahlt richtig, vor allem mit ihren Augen. Ganz warm wird mir da ums Herz, weil ich so etwas wie Lebensfreude in ihr spüre, in mir spüre. Ein Gefühl von: „Das Leben ist jetzt.“
Als Kontrastprogramm dazu : sinnschwangere Gedanken liefern sich in meinem Kopf ein knallhartes Pingpong: Würdest du so leben wollen?
Wie viel kriegt sie überhaupt mit von der Welt? Wo ist da der Sinn?
Alles philosophische Fragen, die mich immer wieder nicht nur mit meinen Wertvorstellungen, sondern vor allem auch mit dem Innersten meiner Persönlichkeit konfrontieren sollten.
Doch die Präsenz der kleinen Rasselbande gibt mir glücklicherweise nicht viel Zeit, meinen schwermütigen Gedanken hinterherzuhängen. Überall spielende Kinder, Bewegung, Stimmengewirr, Lachen. Ich bin voll im Geschehen. Deshalb verliere ich meine ersten Berührungsängste und streichle der Kleinen im Rolli sanft über den Kopf. Sie lächelt. Der erste Schritt zu einem natürlichen Umgang mit Behinderungen ist getan.
Jeden Tag kommen jetzt neue Erfahrungen und kleine Herausforderungen auf mich zu: Wickeln, Füttern, Zähne Putzen etc. Weil ich zuerst jeden Handgriff sehr liebevoll gezeigt bekomme, fällt es mir nach kurzer Zeit gar nicht mehr schwer, diese Pflegetätigkeiten zu übernehmen. Das fühlt sich gut an. Für uns beide jedes Mal kleine Erfolgserlebnisse, so sehe ich das. Von Tag zu Tag nehme ich die Behinderungen nun weniger wahr. Ich sehe nur noch das, was da lacht, was da schreit, was da strampelt: ein Mensch wie du und ich. Ein Mensch, der am Leben ist – mit Freude. Eine Seele, die lustig und traurig, aufgeregt und müde ist. Alles eben zu seiner Zeit.

Ich hielt „Der Kleine Prinz“ früher oft für pathetisch. Nun kann ich ihm doch etwas abgewinnen; sogar sehr viel.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass sich all meine für „gesunde Menschen“ typischen Vorbehalte und Berührungsängste gegenüber Menschen mit derartigen Behinderungen in Luft aufgelöst haben. Zweifel und Ängste sind einem Gefühl von Richtigkeit und Verbundenheit gewichen, die dann existiert, wenn wir alle das Beste aus dem machen, was wir haben.
Das heißt für mich letztendlich: Mitgefühl, aber kein Mitleid gegenüber Menschen mit Behinderungen.

Juli 2007, Elena Steinbrecher

 


 

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